von Arina Molchan
Es war Ende Dezember, als ich den schlimmsten Hustenanfall meines Lebens bekam. Ich war auf einer reduzierten, eher verbotenen Party, auf der sich quarantänegequälte Extrovertierte trafen. Ich redete mir die Zunge fusselig – und sie war es nicht mehr gewohnt. Die Luft war tröpfchenschwanger und mein Hals kratzte. Meine Lunge pochte seltsam gegen das Brustbein, der Rachen schloss sich, als ich versuchte, Luft zu holen. Ich spürte sofort, dass es kein gewöhnlicher Husten war. Etwas hat sich in mir gelockert und glitt mir die Speiseröhre hinab. Versuchte es zumindest, aber da hustete ich es aus – in meine Hand. Eine Zunge. Kurz wunderte ich mich, warum es so leicht ging – sich die eigene Zunge herauszuhusten. Zungen gingen normalerweise nicht raus, sie mochten ihre Höhle, sie blieben freiwillig drin. Aber meine war mir herausgerutscht. Wie eine dicke Essiggurke lag sie in meiner gekrümmten Hand. Sie war fleischigdunkellila. An einem Ende war sie vertrocknet und eingerissen – hier hatte sich wohl die pre-hustenanfall’sche Bruchstelle gebildet.
Ich ging in die Küche und legte meine Zunge auf die Eiswürfel, in denen die ungeöffneten Bierflaschen steckten. Niemand würdigte mich eines Blickes. Man lachte, knutschte, lalalaberte. Ich zog die Schubladen in der Küche auf und zu – auf der Suche nach einem Gefrierbeutel. Wenn ich die Zunge sorgfältig einpackte und in die Notafnahme fuhr, könnte man sie mir vielleicht wieder annähen.
„Was suchste denn?“, fragte eine Blauäugige, die vielleicht die Gastgeberin war, oder deren beste Freundin oder so etwas.
„Eisbeutel“, wollte ich sagen, aber es klang sehr undeutlich und eher nach „Eibordell“. Die Blauäugige verzog ihr Gesicht und suchte sich andere Gesprächspartner. Ich ging das Alphabet durch. AAA, bäh, heee, he, e … Äm und Än gingen. Wenigstens. Und die Vokale. Ich erkannte: Mit vollem Mund sollte man nicht sprechen, mit leerem konnte man es nicht. Im Eisfach fand ich einen Gefrierbeutel. Er war voller Grünzeug, aber ich war nicht wählerisch.
Draußen herrschten Minusgrade, was mir und meinem Zungenstummel sehr entgegen kam. Die Notaufnahme war erwarteterweise relativ voll von illegalen Bölleropfern. Ich klatschte den Gefrierbeutel auf den Schalter und hisste die Frau hinter der Plexiglasscheibe an. Ich zweifelte daran, ob sie mein Anliegen völlig umriss. Immerhin trug ich eine Maske und an der Zunge im Beutel klebten Petersilienreste. Die Frau wies mich unbeeindruckt in den Warteraum. Sie hatte heute wohl schon Schlimmeres gesehen, als marinierte, halb aufgetaute, lila Essiggurken.
Ich nahm neben einer jungen Frau Platz. Sie knetete auf ihren Knien eine dursichtige Tüte voller Zähne. Ich beobachtete sie verstohlen. Es sah aus wie ein komplettes Zahnsortiment – samt Wurzeln und Kronen.
Ich zeigte ihr die Zunge. Die Frau hob erstaunt die Augenbrauen und klapperte mit den Zähnen.
„Auch gehustet?“, wollte ich sagen (Auch gehuheh?). Sie lächelte eine schwarzes, leeres Lächeln. Es war auf ihrer Maske aufgemalt.
„Hie nüsseln“, nuschelte sie.
Ich nickte verständnisvoll. In diesen Masken konnte man sagen, was man wollte – alles klang als wäre man zahn- und zungenlos. Es war ein reiner Alptraum. Ein Zustand verwirrter Unverständnis, der schon zu lange andauerte.
Hat das nicht geblutet, als die Zunge rausging? Und kann man Blut runterschlucken, wenn man keine Zunge hat?
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Fragen über Fragen 😅😂
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Herrlich
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🙂 Ich habe beim Schreiben noch überlegt, ob ich die zwei aus der Zunge und den Zähnen eine Art Mettigel basteln lasse … aber das erschien mir dann unangebracht zu sein.
Danke für das Lob! 🙂
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