von Lydia Wünsch
Es war vergangenes Jahr im Sommer, als ich sie wieder gesehen hatte. Sie war alt geworden, schien es aber nicht wahrzunehmen. Wie ein junges Mädchen tänzelte sie mit ihren alten Beinen am Meeresufer entlang. Ihr graues, dünnes Haar wehte im Wind, verträumt blickte sie in den Himmel.
Sie hatte nie zugelassen, dass die Angst ihr Herz beherrschte. Wie sie das anstellte, war mir schon immer ein Rätsel gewesen.
Ich überlegte, ob ich mich bemerkbar machen sollte, und hob meine Hand, um ihr zu winken, da drehte sie sich plötzlich um und sah in meine Richtung. Sofort war alles still. Selbst den Seemöwen schien der Atem zu stocken. Wenn sie gekonnt hätten, hätte sie noch in der Luft ihren Flügelschlag angehalten.
Da war sie. Viele Jahre älter und noch das gleiche Kind, mit dem ich in unserem gemeinsamen Sommer Muscheln gesammelt hatte. Freilich war sie schon damals kein Kind mehr gewesen, vielmehr eine Frau von beinahe vierzig Jahren. Aber das schien ihr nicht klar zu sein. Wenn sie ihre Unterlippe nach vorne schob und mich trotzig ansah oder in einem plötzlichen Anfall von überquellender Freude auf meinen Rücken sprang und mir in den Nacken pustete, dachte sie nie darüber nach, wie alt sie war.
Ich war der Erwachsene in unserer Beziehung gewesen. Obwohl sechzehn Jahre jünger. Aber was machte das schon, wenn man mit einem ewigen Kind zusammen war?
Und zum ersten Mal, kam mir der Gedanke, dass wir vielleicht doch zusammen hätten alt werden können.
Ich winkte in ihre Richtung, aber sie schien mich nicht zu sehen. Ich winkte heftiger und rief ihren Namen, aber sie hörte mich nicht. Sie blickte zwar in meine Richtung – aber durch mich hindurch. Ich kniff meine Augen zusammen und betrachtete sie genauer.
Und ganz leise keimte ein Verdacht in mir auf.
War sie das gar nicht? Oder erkannte sie mich nur nicht?
Seit unserem letzten Treffen war viel Zeit vergangen. Immer wieder hatte ich den Drang verspürt, ihr zu schreiben, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Die Vernunft hat mich ein Leben ohne zu große Emotionen leben lassen. Mit ihr wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.
Doch jetzt, wo ich sie so sah, wie sie verträumt auf die Wellen hinausblickte und so frei wie die Seemöwen zu sein schien, fragte ich mich, ob ich etwas verpasst hatte. Ob es wirklich so vernünftig war, ein vernünftiges Leben zu führen?
Ich beobachtete sie noch eine Weile aus der Ferne, bis mir kalt wurde und der Gedanke an einen warmen Tee und ein gutes Buch mich wieder in meine einsame Ferienwohnung lockte. Bestimmt war sie es sowieso nicht. Und wenn doch, was machte es für einen Unterschied? Das Leben war fast zu Ende gelebt. Auf diese Weise. Alleine. Meist recht zufrieden.
Mit ihr hätte ich nicht so leben können. Bestimmt nicht, sagte ich mir, als ich in meine weichen Pantoffeln schlüpfte und das dampfende Wasser über den Teebeutel goss. Ich versicherte es mir noch ein paar Mal an diesem Abend, während ich meinen Routinen nachging, die mich sonst in eine wohlige Schläfrigkeit einlullten: Nachrichten, die von Schrecklichem berichteten, das zum Glück immer nur anderen passierte. Ein guter Krimi. Ein leichtes Abendessen. Noch ein paar Gymnastikübungen. Aber die bleierne Traurigkeit, die sich über meine Brust gelegt hatte, ließ trotzdem nur langsam nach.
Es dauerte an diesem Abend lange, bis die Müdigkeit mich endlich im Griff hatte. Und noch während ich in meiner weichen Bettdecke versank und meine Glieder sich über die Ruhe freuten, verfolgte sie mich. Ihr wehendes Haar, ihre nackten Füße im warmen Sand, das Kreischen der Seemöwen … der Ruf des Abenteuers … der ein anderes Leben bedeutet hätte.