Wer das Böse kennen gelernt hat

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von Ina Nádasdy

Wer das Böse kennen gelernt hat, wurde von ihm markiert.

Dieser Gedanke lässt mich die ganze Fahrt über nicht los. Ich schaue zu Polina, die das Lenkrad so fest umklammert hält, dass ihre Knöchel weiß hervor treten. Sie starrt gebannt auf die Straße, sie reagiert nicht auf meinen Blick. Ich sehe aus der Frontscheibe. Es ist bereits finster. Neumond. Dunkel ist es den ganzen Tag gewesen, jetzt aber ist die Nacht hereingebrochen. Der Nebel steigt vom Boden und kriecht über die Felder und die Straße. Wir fahren auf ein Tempo-Display zu. Die bläulichen Scheinwerfer unseres Autos passen nicht zu den grell orange blinkenden Lichtern des Displays. Wie leuchtende Augen stechen sie aus dem Nebel hervor. Ich habe das Gefühl, dass nicht ich beobachte, sondern dass etwas mich sieht. Als ob da wirklich Augen wären.

Wir passieren die Ortstafel. Bald sind wir da und ich werde immer nervöser. Aus meiner Jackentasche hole ich eine Kette mit einem Bergkristallpendel heraus und beginne damit zu spielen. Es hatte Anka gehört, denke ich melancholisch.

Mir fällt auf, dass Polina und ich seit Stunden kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen haben. Ich wünsche mir fast, dass sie irgendwas sagt. So banal es auch sein mag. Etwas ist besser als nichts. Aber mein Wunsch bleibt ungehört.

Sie parkt das Auto am Straßenrand und wir steigen aus. Ab jetzt gehen wir zu Fuß. Es ist windstill. Wir gehen eine Gasse mit Kopfsteinpflaster entlang. Die Straßenlaternen tauchen alles in einen warmen orange-goldenen Schein. Fenster und Steine spiegeln ihn wider. Wie schön es hier sein könnte. Wie einladend.

Dann sehe ich sie, die Villa am Ende der Gasse. Das imposante Gebäude dominiert die Straße, die anderen Häuser scheinen sich davor zu verbeugen. Ich frage mich, wer die großen und kleinen Kürbisse und Kerzen auf den Stufen arrangiert hat. Denn obwohl es Vera gehört, lebt niemand in diesem Haus.

Auf den Stufen sitzen Darja und Imre. Dieser hält einen Rosenkranz in seinen Händen und bewegt seine Lippen zim stillen Gebet. Als Polina und ich vor ihnen stehen, sehen sie auf. Eine Weile schauen wir uns nur an.

„Lasst uns reingehen“, sagt Darja. „Unter diesen Stufen, unter den Grundsteinen wurde eine Katze eingemauert, als dieses Haus gebaut wurde. Ich fühle mich hier unwohl.“ Die erste menschliche Stimme seit Stunden. Ich könnte Darja küssen dafür.

„Das sollte dem Schutz des Hauses dienen“, antwortet Polina.

„Ist mir unklar, wie ein Kadaver das bewerkstelligen soll“, sagt Darja, steht auf und geht ins Haus. Polina verdreht die Augen und folgt ihr. Imre wirft mir einen Blick zu und beginnt von neuem mit dem Rosenkranz. Ich bleibe stehen.

„Nikolas, kommst du?“, höre ich Polina fragen. Sie steht auf der Türschwelle, schaut mich an und geht wieder ins Haus. Antworten kann ich ihr nicht. Ich fühle, dass nichts als ein Krächzen meinen Hals verlassen würde.

Ich will folgen, steige die Stufen zur Tür hinauf und bleibe stehen. Irgendwas ist eben anders geworden. Ich drehe mich um und sehe an der kleinen Treppe eine bunte Katze stehen. Sie ist dreifarbig, eine echte Glückskatze. Sie sieht mich an und ich sehe sie an. Ich glaube, das hat etwas zu bedeuten. Ich weiß nur noch nicht was.

Im Haus folge ich den hallenden Stimmen meiner Freunde. Ich finde sie in der Küche mit Wanja und Wolodja. Die beiden sind wohl vor uns angekommen. Als ich komme, sehen sie mich kurz an, dann schauen wir alle zu Boden. Keiner sagt etwas, keiner bewegt sich. Alles, was ich höre, ist das Ticken der großen Standuhr im Flur.

Ich halte es nicht aus. Ich räuspere mich und frage: „Wo … wo ist Vera?“

Es kommt keine Antwort, keiner fühlt sich angesprochen. Stattdessen geht Wanja zum Schrank und holt einen Salzstreuer heraus. Er schüttet etwas Salz in seine Hand und leckt es ab. Dann schüttet er nochmals etwas in seine Hand. Diesmal mehr. Er schließt die Hand und schiebt sie in die Hosentasche. Er bemrkt unsere irritierten Blicke und sagt: „Man weiß nie …“

„Verschrei es nicht“, warnt Imre und klopt dreimal gegen den hölzernen Türstock. Der Rosenkranz schlägt dabei auch gegen das Holz und klirrt.

„Nicht so laut“, flüstert eine helle Stimme aus dem Flur. So leise, dass sie kaum zu hören ist. Vera. Ich sehe nicht zu ihr, sondern zu den anderen. Nur zaghaft drehen sie sich zu ihr.

„Weil wir Geister aufwecken?“, fragt Wolodja.

„Unberufen“, flüstert Imre und klopft wieder, diesmal aber sanfter, gegen den Türstock.

Wanja legt Imre die Hand auf die Schulter und sieht Wolodja eindringlich an.

„Kommt“, sagt Vera, noch immer im Flur stehend. „Wir haben alles so gelassen wie es war.“ Dann steigt sie die Treppen hinauf zum Dachboden. Wir folgen.

Ich betrete den Raum als letzter. Keiner sagt etwas. Jeder bewegt sich nur so viel wie nötig. Die Kälte, glaube ich, fasst nach jedem einzelnen von uns. Ich bleibe bei der Tür stehen. Ich sehe den schlecht gezogenen Kreis auf dem Boden. Die Kreide ist schon etwas verblasst. Eine kleine goldene Glocke liegt umgefallen daneben. In der Ecke gegenüber stehen schief gekreuzt zwei Besen. Sie hätten uns Schutz geben sollen. Genau wie die Glocke.

Es klopft. Hörst du? Es klopft.“ Anka fasste mich am Arm. Ihre Finger waren eiskalt und, als ich zu ihnen herunter sah, beinahe blau. Imre bekreuzigte sich dreimal. Ich sah zur Tür, dann zu dem kleinen Fenster und lauschte. Ich hörte nichts. Nur noch die Schritte von Wanja, der zu uns kam. Er hatte den ganzen Ramsch bestaunt, der sich in all den Jahrzehnten auf dem Dachboden gesammelt hatte. Alte Schränke aus Kirsch- und Eibenholz, Kupfertöpfe, alte Spiele und Dekorationsgegenstände, Kleider und Schuhe in Kartons und eine große Kiste voller Glühbirnen.

Ich höre nichts“, sagte ich zu Anka und strich über ihren Arm. Ich versuchte, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Ich durfte mir nicht anmerken lassen, wie nervös sie mich machte.

Da ist auch nichts“, fuhr Wanja dazwischen. „Wir sind alleine hier. Nur wir vier. Die anderen sind unten.“

Anka huschte von meiner Seite und kauerte sich in eine Ecke. Sie blickte hekisch um sich. Immer wieder zuckte sie zusammen und murmelte: „Es klopft. Es klopft. Hört ihr es nicht? Es klopft.“

Ich vermeide es, an die Stelle zu sehen, an dem sich ihr Blut in die Holzdielen gefressen hat. Ich sehe, wie Wolodja eine große Kupferschale holt und in die Mitte des Kreises stellt.

„Ihr habt alle die Sachen dabei?“, fragt Vera.

Keiner antwortet. Wir bilden nur einen Kreis um die Schale. Wir hatten beschlossen, einen Schlussstrich zu ziehen. Jeder lässt seinen Gegenstand – ein Symbol, welches uns Schutz geben sollte – zurück. Wir verschließen die Tür und betreten nie mehr diesen Raum.

Vera tritt einen Schritt vor und legt eine Pfauenfeder in die Schale. Die Feder hatte sie als Kind selbst gerupft. Wanja und Wolodja legen zeitgleich ein waldgrünes Stofftuch und einen Goldring hinein. Beides gehörte ihren früh verstorbenen Eltern. Sie trugen sie noch bei der Aufbahrung. Darja gibt ihre Stricknadel her, ein Geschenk ihrer Großmutter. Sie klirrt, als sie an den Rand der Schale schlägt.

Ich sehe auf den Gegenstand in meiner Hand und meine Augen werden groß. Es ist der Bergkristall, der nicht mehr klar und durchsichtig ist, sondern schwarz und trüb ist. Schnell schließe ich die Hand und versichere mich, dass es keiner gesehen hat.

Alle sehen zu Boden. Polina tritt gerade von der Schale zurück, in die sie eine Sichel gelegt hatte. Ich wechsele einen Blick mit Imre. Flehend sieht er mich an. Also knie ich mich vor die Schale und lege meinen schwarzen Bergkristall hinein. So, dass Wanjas Tuch ihn verbirgt. Imre lässt zum Schluss seinen Rosenkranz hineinfallen.

Anka putzte wie wild den Boden. Sie entfernte beinahe die Farbe der Holzdielen.

Anka“, flüsterte ich und berührte sie zaghaft an der Schulter, „es ist genug. Lass es jetzt.“

Nein. Er mag es nicht. Er will es sauber.“

Wer?“

Sie zeigte hinter mich. Ich spürte tatsächlich einen Blick in meinem Rücken. Verunsichert blickte ich zu Wanja, der den Kopf schüttelte und die Augen verdrehte.

Anka stoppte mitten in ihrer Putzbewegung. Sie starrte auf einen Punkt hinter mich, dann sprang sie auf und murmelte immer wieder: „Er will Blut. Er will Blut.“ Dann schnappte sie sich das Messer – Warum es dort war? Ich weiß es nicht mehr – und zog sich entschlossen die Klinge über die Kehle.

Ich fühlte, wie mich etwas an der Hand berührte.

Polina, die eben in den Raum rannte, rief erfreut aus: „Seht! Was nicht gut genähet ist, muss doch gut geklopfet sein!“ und hob Wolodjas grünes Tuch hoch. Dann sah sie Anka am Boden liegen und wurde ganz still.

Alle bleiben noch eine Weile um die Schale stehen. Dann verlässt einer nach dem anderen den Dachboden. Vera und Imre bleiben an der Tür stehen, um abzuschließen. Ich lasse meinen Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen. Dann sehe ich etwas in einer Ecke auf dem Boden blitzen.

„Nikolas?“, ruft Imre nach mir.

Ich knie mich vor den Gegenstand. Es ist das Messer, mit dem Anka … Es klebt noch immer ihr Blut daran. Ich nehme es in die Hand. Dann höre ich Ankas Stimme in meinem Kopf.

Er will Blut.

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