von Arina Molchan
Ich komme von der Arbeit nach Hause, in mein Nest aus Kabeln und Schnittstellen. Rechts steht das ungemachte Bett, links an der Wand der Käfig. Die Neonröhre an der Decke surrt. Ich streife alles bis auf die Unterwäsche ab, schmeiße die Arbeitsuniform auf den Boden und beginne mein feierabendliches Ritual: Powercocktail schlucken, eine Koffeintablette auf die Zunge legen, danach Trinken aus dem Wasserhahn, mit einem nassen Tuch Nacken und Stirn kühlen. Als letztes dann der Gang auf die Toilette.
Erst als ich wieder im Zimmer bin, ziehe ich meine Haut an. Sie hat schon Beulen an den Knien und Ellbogen und das Verschlusssystem klemmt. Sie riecht nach Schweiß und Neopren.
In meiner Haut sperre ich mich von innen in den Käfig und lege die Handschuhe mit den Sensoren an. Sie verbinden sich mit den Implantaten in meinen Fingerkuppen, leuchten, bis der Synchronisationsvorgang beendet ist. Jetzt hat jede Bewegung der Hand eine Bedeutung.
Ich starte das Programm.
*
Das virtuelle Gewölbe baut sich auf – ein Höhlensee, eine winzige Sandinsel. Nur hier können sich die Gedanken entfalten. Es ist still. So still, dass es rauscht, als wäre dieser Raum eine riesige Muschel, die man sich ans Ohr hält.
[Ich] habe hier einen Stuhl platziert, auf dem [Ich] nachdenken kann. Die Idee mit der Glühbirne kam später. Da [Ich] sie ganz witzig fand, baumelt jetzt ein Licht über dem Stuhl: das Kabel ein morsches Tau, das sich aus dem Nirgendwo herabsenkt. Glühender Wolframfaden, hermetisch eingeschlossen in Edelgasatmosphäre: Solche Lampen gibt es in Real Life nicht mehr, sie müssen simuliert werden.
Das Licht strömt wie flüssiger Bernstein auf meine Schultern und spiegelt sich im schwarzen Seewasser.
Es fehlt nur noch jemand, der das Lichtkunstwerk wertschätzen kann.
*
Das Menü ist unendlich, es rollt über die Felswände und verschwimmt zu Linien. [Ich] langweile mich und habe Zeit. Also hacke [Ich] den Code.
[Ich] kann das.
*
An meinem Finger klebt eine Raupe. Sie verpuppt, erstarrt, platzt auf und ein Nachtfalter kriecht heraus, bleich und pelzig. Seine Fühler verästeln sich zu Federn und rollen sich an den Enden zu Spiralen zusammen; an den Beinen hat er kleine Widerhaken, an den Flügeln schwarze Punkte, wie verstreute Sandkörner.
[Ich] erschaffe.
Mit einer Handbewegung jage [Ich] die Metamorphose vor und zurück. Die Nachtschwärmerflügel entfalten sich vor mir, immer wieder, in einem endlosen Loop.
Mir ist alles möglich.
[Ich] setze den Falter auf das Glas der Glühbirne und erlaube ihm, sich zu bewegen. Er tastet das Licht mit seinem Saugrüssel ab, als ob er es trinken könnte.
Außer mir kann das niemand.
*
Wie viele Menschen haben einen solchen Käfig im Zimmer stehen? Welche Wünsche erfüllt ihnen das Programm?
Ich könnte Risse im Netz finden, mich in fremde Welten einschleusen. Ich müsste nur die Schwachstelle im System lokalisieren.
Ich trete aus meinem Käfig und beginne zu suchen.
*
Das Datenmeer ist tief, der Tauchgang lang: Er führt durch biolumineszente Quallenwolken, in deren Tentakeln sich kleinen Fische verfangen; vorbei an Seeanemonen, die mit falschen Versprechen locken; und an den gierigen Seesternkolonien, die sich über die frischesten Informationskadaver hermachen.
Darunter, im abyssalen Bereich, treiben sich nur noch die Riesenkalmare herum, und ein paar anonyme Untiere der Tiefsee. Hier, am Grund, finde ich zwei Namen: [De Nuncques]* und [Afremov]*.
Sie versprechen mir mehr.
*
Treffen mit [Afremov] und [De Nuncques] an der Peripherie. Es ist Nacht im Park und die Wege sind leer. Nur vereinzelt tropfen Laternen ihr Licht in schrillgelbe Pfützen.
Hinter den Bäumen flimmert die unsichtbare Grenze der Welt. Schritte schleichen über den nassen Asphalt.
[De Nuncques] ist eine Kopie von [Afremov]: Sie bewegen sich synchron, sie tragen Masken mit krummen Vogelschnäbeln und runden Augengläsern, hinter denen nichts zu erkennen ist.
[De Nuncques] bekommt die Coins und [Afremov] spritzt mir dafür den Code unter die Haut. Vom Handgelenk aus zieht der String aus Zeichen in mein digitales Herz. Ich spüre den Download, wie er durch die Adern jagt, sich im Körper ausbreitet und mich zu einem Lichtwesen macht.
Jetzt bin [Ich] göttlich.
*
[Ich] breche ein. Heute werde [Ich] nicht meinen Höhlensee laden, sondern andere Welten, fremde Träume.
[Ich] bin allmächtig.
[Ich] kann das.
*
Platte, generische Landschaft – weiter – eine rote Wüste in grobkörnigen Texturen – weiter – raumlose Dunkelheit in der bei jedem Schritt der eigene Fußabdruck aufleuchtet und Feenstaubblumen sprießen lässt – Idee zu kitschig, die Grashalme zu kantig – weiter – das Innere eines Cafés, leere Tische, beschlagene Fenster und schlechte Musik aus dem Off – talentfreie Noobs, weiter – ein Strand und das träge Ächzen der Wellen, luftraubende Kälte auf meiner Haut – weiter – ein Zimmer ohne Ausblick, erstarrte Vorhänge und eine Tasse substanzlosen Tees – halt – zurück – die Wellen. [Ich] kehre zurück zu den Wellen, zu dem Strand und atme das Salz, die Weite, und fühle.
Das ist unmöglich.
*
Das Meer ist grau wie Asphalt. Wellen schaben das Eis vom schwarzen Strand, schleifen es mit, türmen auf, brechen zusammen. Träge. Wieder. Und wieder.
Ein Schritt, und es knirscht unter den Füßen. Die Schneekristalle zersplittern unter meinem Gewicht, drücken sich zwischen die Sandkörner. Der salzige Wind staucht mich zusammen, drängt von oben herab, von der Seite, vom offenen Meer her und füllt die Lungen mit Schwere. In der Luft, mit unermüdlichen Flügeln, kämpft ein Papageientaucher mit den Böen.
*
Unmöglich. Ich öffne die Käfigtür und ziehe mir das Meer vom Kopf. Der Lüfter der Grafikkarte rauscht. Mein Bett ist ungemacht. Darüber flackert die Neonröhre.
Ich mache einen Schritt aus dem Käfig. Die Arbeitsuniform liegt wie eine angespülte Krake auf dem Boden. Ich beginne die Handschuhe abzustreifen, halte inne, ziehe dann die Tür wieder zu und starte erneut das Programm. Der Code leuchtet mir durch alle Adern und meine Höhle baut sich auf, meine Insel unter dem Lichtkegel.
Der Raum ist eng. Die Stille drückt auf die Ohren. Die Motte reibt sich in Dauerschleife an der nackten Glühbirne. Sie macht weder ein Geräusch noch wirft sie Schatten. Was für ein Anfängerfehler. [Ich] rolle das Menü auf, rausche hindurch, suche ziellos nach Einstellungen und finde keine.
Wer bist [Du]?
*
Unweit von meinem Spawnpoint in deiner Welt, auf dem Vulkansand, wölbt sich eine weiße Masse: ein Wal?
[Ich] trete näher.
Der Kadaver des Belugas ist hartgefroren. Eis umschließt seine Schwanzflosse und Raureif überzieht den Körper. [Ich] fahre mit den Fingern über die Textur der Haut. Die kleinen Kristalle schmelzen unter dem Druck meiner Finger und legen kleine Risse im Hautgewebe des Tieres frei.
Das Auge des Wals ist trüb, von innen beschlagen. Ein Fleck auf der Hornhaut hat die Form eines [Herzens]. [Ich] neige mein Ohr über das Tier: Im Inneren des Kadavers klingt etwas – sein Walgesang? – oder menschliches Murmeln? [Ich] schließe die Augen.
[Du] gibst selbst dem Tod eine Stimme.
Als [Ich] aufsehe, sitzt der Papageientaucher auf dem gestrandeten Wal und beobachtet mich.
Bist [Du] das?
Wer bist du?, frage [Ich]. Der Vogel flattert auf und in diesem Moment sehe [Ich] in der Ferne, auf einer der Dünen kurz eine Gestalt: [Du] löst dich auf und [Ich] bleibe zurück mit dem singenden Wal.
[Du] bist so bleich wie mein Nachtfalter.
*
Dein Strand ist unendlich. [Ich] folge dem geborstenen Meeressaum, an dem die Wellen das Eis nachschieben und besehe mir, was [Du] hinterlassen hast: all die Tiere der Urzeit, die sich nacheinander aus dem schwarzen Sand schälen, bleiche Gerippe, seltsam schön im Schnee.
Ein Pfeilschwanzkrebs; ein Nautilus, zu groß, um echt zu sein; Kieferknochen unbekannter Wesen. Das Skelett eines Plesiosauriers. [Ich] zähle die Halswirbel. [Du] bist gut.
[Ich] rufe nach dir, aber niemand antwortet.
*
Meine Höhle erdrückt mich. Außerhalb des Käfigs schlägt deine Brandung in meinem Kopf. Nur Wellen und Wellen und Eis, das vibrierende Schaben, das aus der Lunge des Meeres kommt: das Atmen eines ungeheuren Wesens. Und ich atme mit ihm. Ich atme mit deinem monochromen Meer.
Wer bist [Du]?
*
Ich lege die Haut gar nicht mehr ab, wenn ich meinen Käfig verlasse. Tagsüber trage ich sie unter der Uniform, um das Gefühl nicht zu verlieren.
Nachts kann ich nicht schlafen, weil ich das Meer atmen höre.
Weil ich dich atmen höre.
*
Der Schnee knirscht mir unter den Sohlen und der Wind peitscht von oben herab, vom Ozean her. [Ich] möchte dich finden, auf einem Pfad in den Dünen. In den Tälern aus schwarzem Sand heult weder der Wind, noch atmet die Brandung. Es flüstert nur das silberne Gras, und [Ich] höre darin deine Stimme.
*
[Ich] lege mich in den Dünen auf die Lauer. Für lange.
*
Ich schlief zum ersten Mal in dem Käfig ein. Die ganze Nacht trug ich dein Meer an meiner Haut und träumte.
Außerhalb des Käfigs ist alles fad, wie kaltes, ungesalzenes Essen.
*
[Ich] sitze in meiner Höhle und suche nach Ablenkung. Warum nicht den See gefrieren lassen? [Ich] bewege die Finger. Das Licht der Glühbirne wirft bernsteinfarbene Schlieren auf die Oberfläche. [Ich] wage einen Schritt auf das Eis und höre es unter mir ächzen, aber nur stumpf, ohne jegliche Tiefe. [Ich] gehe dennoch in die Dunkelheit und blicke zurück. Meine Insel mit dem Stuhl bleicht unter dem Lichtkegel. Und die Schatten, die der Nachtfalter wirft, zucken bis in die Leere hinein. Wie kann so etwas Kleines einen so großen Schatten werfen?
*
Es ist Nacht im Park an der Peripherie und die Wege sind leer. Schuhsohlen schmatzen durch die Pfützen, die Füße werden aber nicht nass. [Afremov] und [De Nuncques] treten aus der Dunkelheit heraus.
Gebt mir mehr Macht, sage [Ich].
Und sie geben.
*
Deine Welt gehört jetzt auch mir. [Ich] bin eingedrungen und bleibe. [Du] bist nicht mehr allein.
[Ich] baue dir Stufen aus Bernstein in deine Dünen. Betrachte das als erste Demonstration meiner Fähigkeiten.
*
[Ich] habe Eissplitter gesammelt und riesige Buchstaben auf dem schwarzen Sand ausgelegt.
*
Zum ersten Mal sehe ich dich. Deutlich. [Du] stehst da, auf einer der Dünen und blickst hinab auf mein Werk. [Du] bist schöner, als [Ich] es mir vorgestellt habe.
[Ich] genieße dein Staunen.
*
[Ich] verwandle dein Meer, mache den Sand perlweiß, strandkorbweich, lege lachsfarbene Muscheln und Seetangmedusen aus. Wenn die Welle weicht, spiegelt sich der Himmel im nassen Sand.
[Ich] bin dein Künstler.
*
Ich schleiche wie ein Einbrecher von der Tür zum Käfig, vom Käfig zur Tür. Die Neonröhre ist durchgebrannt. Aber wozu sie austauschen? Einen Wecker stelle ich mir gar nicht mehr. Ich will nicht rechtzeitig aufwachen.
An deinem Meer bin [Ich] zeitlos.
*
[Du] hast meine Farben verwässert, alles wieder grau gemacht.
Hast [Du] dich geärgert?
*
Hinter dem Wall der Dünen erstreckt sich eine Ebene. Die windgebeugten Bäume weisen mich mit ihren Ästen ins Landesinnere. Es dauert trotzdem, bis [Ich] deinen Spawnpoint finde. Es ist ein grobbehauener Altarstein, verwittert und nass – das [Herz] deiner Welt. Hier kommst [Du] an. [Ich] beobachte, wie [Du] dich materialisierst, mit deinen bleichen Haaren und dem Papageientaucher auf der Schulter.
[Ich] merke mir alles.
*
Der Nachtfalter krabbelt mir über die Handfläche, immer im Kreis.
Ich kann alles tun, murmele [Ich]. Ich kann alles tun. Um es zu beweisen, hole [Ich] aus dem Menü einen Spiegel und beginne meine eigene Metamorphose.
[Ich] ahme dich nach, wandle mich. Alle deine Pixel legen sich in Schuppen über meine Haut. Zelle an Zelle. Wie anders es sich anfühlt, [Du] zu sein. Fast wie eine Berührung.
Der Gedanke sitzt mir im Nacken, dich ganz zu besitzen. Deine Haut und die Härchen, die sich aufstellen würden, weil meine Finger kalt sind; dein Meer in all den Sachen, die auf den Boden fallen. Wirst [Du] dich selbst lieben?
[Ich] lasse dich an bis zum Morgen.
*
In den Silbergrasdünen habe [Ich] dir aufgelauert. [Ich] trage deine Haut und bin neugierig: Bin [Ich] eine gute Kopie? Durchschaust [Du] mein Spiel?
[Ich] trete hinter dich. Dein Körper strahlt Wärme aus – das habe [Ich] nicht erwartet. [Ich] strecke den Arm aus, um dich zu berühren, aber [Du] bist schneller und drehst dich um.
[Ich] sehe jede Sommersprosse, jede Rille in deinen vor Kälte aufgeplatzten Lippen. [Du] bist so schön wie das Meer.
[Ich] mache einen Schritt auf dich zu, aber [Du] weichst zurück.
[Ich] …
Wo fliehst [Du] hin?
*
Zwei Tage im Käfig – oder drei, oder vier? Unter mir eine Pfütze. Der Durst zwingt mich aus dem Spiel. Sobald ich mich abschnalle, geben meine Füße nach. Der Boden ist hart.
Es ist finster im Raum, nur vereinzelt blinkt etwas auf. Der Lüfter rauscht. Rechts ist das Bett – oder links? Ich taste, fühle nur Nässe.
Durst.
[Ich] habe ausgeharrt, gehofft, dass [Du] zurückkommst. Dich näher wagst. Mit mir sprichst.
Aber mein Körper war zu schwach, um noch länger zu warten.
*
[Ich] kehre zurück zu dir, aber dein Strand bleibt leer. [Ich] hoffe weiter.
Wo bist [Du]?
*
Wo bist [Du]?
*
Wo bist [Du]?
*
Wo ist [ ]?
Die Frage geht an [Afremov], dann an [De Nuncques]. Die eine Maske löst sich auf, die andere berührt die dunklen Augengläser und ein roter Schriftzug fügt sich auf ihnen zusammen:
GAME OVER.
*
[Ich] habe dein Meer gesucht und keinen Tropfen gefunden. Nur noch [ ], [ ] und [ ].
*
Die Felswände meiner Hölle bauen sich auf, dann: vier verkohlte Pflöcke im grauen Sand. Das Licht ist zu grell. Die Flügel des Nachtfalters sind an die Glühbirne geschweißt. Er hat weder Fühler noch Beine noch Kopf. Und dann, aus der Dunkelheit, das anschwellende Kreischen der Stille – als käme es aus dem Tiefsten.
Warst [Du] hier? Ist das deine Rache für meine Verkleidung? Woher hast [Du] den Zugang zu meiner Welt? Warst [Du] im Park? An der Peripherie?
[Ich] starre herauf zum Nachtfalter, dann in die Tiefe. Erst jetzt bemerke [Ich] den Schriftzug im Wasser:
No man is an island.
*
Die Masken starren mit Augen aus Bernstein. Dein Papageientaucher sitzt [Afremov] auf der Schulter und [Ich] bin verwirrt. Verwirrt, wer wen gespielt hat.
Meer …, sage [Ich].
[Afremov] schüttelt den Kopf, fasst um mein Handgelenk und schickt mir eine Nachricht durch die Adern.
Ein Datum, eine Uhrzeit, eine Welt.
*
[Du] sitzt mir gegenüber, mit deinen bleichen Haaren und Wimpern, in diesem Café mit der schlechten Musik aus dem Off. Ein Beluga lacht spiegelverkehrt auf der Eingangsglastür. Die Bullaugenfenster sind beschlagen, draußen schleicht der Regen umher. Von den Wänden herunter gafft uns eine Reihe Masken an – Nasen wie krumme Vogelschnäbel, augenlose Schönheiten, bedeckt mit Federn und Fischschuppen. Wir tun so, als würden wir trinken.
[Du] legst deine Hand auf die Tischplatte, wie eine Aufforderung an mich, sie zu berühren. Um dein Handgelenk kräuseln sich glühender Wolframdraht und lachsfarbene Muschelsplitter. Sie schaben über die Tischplatte.
Wer bist du?, frage [Ich].
[Du] hast die generische Stimme [aLanda] – ein bisschen tiefer, samtiger, als [Ich] sie mir vorgestellt habe. [Du] fragst: Hier oder in Real Life?
In Real Life.
[Du] rührst in deinem Getränk. Der Löffel schlägt gegen das Glas und bringt es zum Singen. Diese aufgesetzten Gesichter verfügen nicht über Mimik. [Ich] kann nur raten, was [Du] denkst, aber [Ich] halte die Reglosigkeit nicht aus und sehe stattdessen aus dem blinden Bullauge.
Bist du … weiblich? Männlich?, frage [Ich].
Die Muscheln rutschen an deinem Arm und von den Wänden starren die Masken auf uns herab. Dann streckst du erneut deine Hand aus, legst sie hin, zum Greifen nahe.
Komm, ich zeige dir etwas, sagst [Du]. [Ich] zögere, lasse aber deine Finger gewähren: [Du] umgreifst mein Handgelenk und die Berührung sendet ein Licht durch meine Adern.
Ein Upload? Was machst [Du]? [Ich] versuche meinen Arm zurückzuziehen, aber [Du] hältst ihn fest. Dann spüre [Ich] dich: Überall auf meiner Haut sind deine Fingerabdrücke, an allen Sensoren. Das Leuchten des Uploads sammelt sich in meinem Brustkorb und verglüht unter meinen Rippen.
Die Tischplatte, eben noch eine glatte Oberfläche in Holz-Textur, hat jetzt Rillen in der Maserung. Sie fühlt sich klebrig an, als ob sie nie abgewischt wurde. Meine Tasse ist warm, dort wo die simulierte Flüssigkeit vorgibt, Kaffee zu sein.
[Du] schiebst deine andere Hand auf meine Hälfte des Tisches und sagst: Hier, fühle. Das wolltest du doch.
[Ich] lege langsam zwei Finger auf deinen Unterarm, oberhalb des Muschelbands. Deine Haut ist nachgiebig, kalt, als wärst [Du] erst von draußen hereingekommen. [Ich] spüre jedes Härchen, das sich beugt, als [Ich] darüber streichle. [Du] bekommst eine Gänsehaut.
Wie machst du das? [Ich] kann nicht aufhören: [Du] fühlst dich so echt an.
Ist nur ein Code um die Sensoren neu zu kalibrieren, sagst [Du] und beugst dich vor, um zu flüstern: Das ist noch nicht alles. Möchtest du mehr?
Ein Tropfen rollt über die beschlagene Fensterscheibe. [Ich] nicke und strecke dir bereitwillig meinen Arm entgegen. [Du] löst langsam den gekräuselten Wolframdraht und wickelst ihn mir um das Handgelenk. Deine Fingerspitzen streifen mich dabei leicht.
Den anderen Arm auch.
[Ich] gehorche. Während [Du] meine Hände zusammenwebst, lasse [Ich] dich nicht aus den Augen. [Du] hast Sommersprossen auf der Nasenspitze und deine Unterlippe blättert, gesprungen vom Wintermeer. [Ich] würde so gerne …
[Du] bindest die zwei losen Enden des Glühfadens zusammen und drückst mir den Knoten unter die Haut. Dort verwandelt er sich in einen Bernsteinsplitter und wandert meinen Arm hinauf. Es juckt. [Ich] warte, bis er in meinem Brustkorb verschwindet.
Und jetzt?, möchte [Ich] fragen, aber meine Kieferknochen rühren sich nicht. Mein Mund lässt sich nicht öffnen. [Ich] versuche es erneut, und erneut. Ist das ein Bug? Ausgerechnet jetzt?
Da krümmst [Du] einen Finger und die Tischplatte rast mir entgegen. Dann kippt der ganze Raum zur Seite. Mein Blickfeld verschwimmt an den Rändern. Etwas dreht meine Augen und ich sehe zwei Unterarme neben mir liegen und einen Wolframdraht, der sich ihnen durch die Haut sengt. Sind das meine? Warum fühle [Ich] nichts?
Das Café schwingt zurück und erst als deine Finger in mein Sichtfeld rücken, sinkt die Erkenntnis: Du hältst in ihnen unsichtbare Marionettenfäden, an die ich gebunden bin.
Escape! Programm beenden, aus dem Käfig aussteigen. Meine Hände, [Ich] brauche dafür meine Hände. Nichts rührt sich, nichts, bis der Raum sich wieder dreht, das Bullauge vorrückt und meine Finger anfangen, ein [Herz] auf die beschlagene Scheibe zu malen.
Lass mich!, möchte [Ich] sagen, aber sie fahren nur das [Herz] nach, malen es aus, in einem Loop, nur das [Herz].
[Ich] höre wie [Du] aufstehst – [Herz] – wie ein Stuhl über Parkett schleift – [Herz] – wie Holz knarzt. Dann taucht dein bleiches Spiegelbild in der Fensterscheibe auf. [Du] hältst eine der Masken über meinem Kopf und stülpst sie mir über.
Das Café zerfließt.
In der Dunkelheit dahinter hoffe [Ich] kurz, die Steuerung wieder übernehmen zu können – aber schon fügt sich um mich eine Landschaft zusammen: ein schwarzer Strand, eisträges Wasser.
[Ich] sitze auf einem weißen Berg, Raureif unter meinen Krallen. Der Wind plustert mir die Federn auf.
[Du] streckst mir den Arm hin, wie eine Einladung, darauf zu klettern, und sagst: Du wolltest doch Meer.